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Das Recht der Primitiven - Herbert W. Franke

D A S   R E C H T   D E R   P R I M I T I V E N
Herbert W. Franke © 2009
*

Von allen Problemen, die es bei der Verständigung mit Angehörigen fremder Völker zu lösen
gibt, ist jenes der Sprachunterschiede vielleicht das größte. Kann man sich auf eine
vergleichbare Basis der Umstände und Verhaltensweisen stützen, dann reduziert sich die
Frage auf den Austausch von Worten und Sätzen. Hat man es aber mit fremdartigen Kulturen
zu tun, insbesondere mit solchen fremder Planeten, dann nutzt eine Übertragung von Worten
nichts - man behilft sich dann mit Analogien aus dem eigenen Kulturkreis. Wenn aber selbst
solche Analogien fehlen, dann bleibt nichts anderes übrig, als sich auf Gemeinsamkeiten zu
stützen, die für alle denkbegabten Wesen des Kosmos verbindlich sind.



Das Recht der Primitiven
(The primitives' rights)
by
Herbert W. Franke © 2009

"Da wäre noch dieses Problem mit den Eingeborenen..." Stockson, der Assistent des Koordinators, zögerte. "Welches Problem? Gibt es noch ein Problem?" Der Koordinator wischte mit der Hand einige unsichtbare Stäubchen von der spiegelblanken Fläche seines Schreibtisches fort, als ließe sich das Problem auf diese Weise mit entfernen. "Die Delegation der Eingeborenen", erinnerte Stockson. "Sie wartet schon seit 14 Stunden drüben im Besprechungszimmer." Mit einem Seufzer stemmte sich der Koordinator vom Schreibtisch hoch. Unaufgefordert ging ihm Stockson voran, öffnete ihm die Tür. Als der Koordinator eintrat, dröhnten seine Schritte noch lauter als sonst auf dem Metallfußboden des Behelfsbaus. Teils auf den Stühlen, teils auch auf dem Fußboden saßen oder, besser gesagt, hockten die Eingeborenen. Eine Delegation... dem Koordinator kamen diese Wesen eher wie ein Rudel Affen vor, die man aus Sicherheitsgründen eingeschlossen hatte. Obwohl sie von der äußeren Gestalt her gewisse Ähnlichkeiten mit Menschen hatten, waren es schließlich doch die Unterschiede, die sich einprägten: das graue Fell, die flaschenförmigen Köpfe mit den Schnauzen, aus denen die Eckzähne hervorsahen, die Hände zwar zum Greifen ausgebildet, doch an den Gelenken hufartige Höcker, die es ihnen erlaubten, sich auf allen vieren vorwärts zu bewegen.

Als die Menschen eintraten, richteten sie sich nicht auf, sondern duckten sich, als wären sie bereit, sich gegen einen Angriff zur Wehr zu setzen. Der Koordinator lehnte sich an die Wand, wartete, bis sein Assistent die Mikrofone des Übersetzungsautomaten ausgerichtet hatte. Dann, mit einer ungeduldigen Bewegung des Kinns, forderte er sie zum Sprechen auf. Intelligente Wesen, dachte er - man möchte es nicht glauben. Diese tierhaften Gesichter... ob unsere Vorfahren auch so ausgesehen haben?

Inzwischen war einer der Eingeborenen vorgetreten, hatte gestikuliert und dazu unverständliche, bedrohlich klingende Laute ausgestoßen. Auf der Schalttafel des Automaten leuchtete ein roter Schriftzug: ÜBERSETZUNGSMODUS. Eine kurze Wartezeit... Seltsam - diese primitiven Humanoiden waren verschieden groß. Vielleicht zeichnete sich in der Größe die Rangordnung ab, denn der Sprecher der Abordnung überragte die andern fast um Kopfeslänge.

Ein Summton zeigte an, daß die Übersetzung beendet war.
Stockson drückte auf einen Knopf, um sie abzurufen.
      "Die Landung der acht irdischen Raumschiffe stellt eine eklatante Verletzung des Völkerrechts dar. Um Zustimmung der einheimischen Bevölkerung wurde nicht angesucht; im übrigen wäre sie auch nicht gegeben worden." Der Koordinator stutzte, er stieß sich von der Wand ab und zog sich den nächststehenden Stuhl heran, auf dem er sich ächzend niederließ. "Was soll das heißen? Ich verstehe nicht."

Der massige Anführer der Delegation sprang vor, griff nach dem Mikrofon. Er schien begriffen zu haben, daß die Verständigung über dieses technische Hilfsmittel lief. Während er seine unverständlichen Kehllaute ausstieß, hielt er es umfaßt und schüttelte es. Wieder eine kurze Wartezeit, dann verkündete der Übersetzungsautomat: "Einen noch schlimmeren Verstoß gegen die Charta der Unabhängigkeit stellen die auf unserem Planeten vorgenommenen Eingriffe dar. Dadurch wurden nicht nur die Biotope empfindlich gestört, sondern auch Veränderungen vorgenommen, die sich auf die Bevölkerung schädlich auswirken können. Wir fordern die Menschen auf, diesen Planeten unverzüglich zu verlassen, und behalten uns rechtliche Schritte bei der interplanetaren Kommission vor." Das könnte ihnen so passen, schoß es dem Koordinator durch den Kopf. Wir ziehen uns zurück und überlassen diesen Wilden alles das, was wir in jahrelanger Arbeit mühsam installiert haben.
      Was hatte es doch für Mühe gekostet, dieses Tal zu zivilisieren. Oben an den Hängen wurden riesige Dämme gebaut, die die Lavaflüsse aus den Vulkanen ableiten sollten, eine Fläche von mehreren Quadratkilometern war vom Urwald und von den wilden Tieren gesäubert worden - jetzt wuchs hier sauberes Gras, oder zumindest etwas Ähnliches. Das Ganze war mit einer Kuppel überzogen, die die immer wieder auftretenden Regenfälle abhalten sollte - ein Regen, der giftige Pilze enthielt. Die Eingeborenen kannten kein Mittel dagegen und kamen, vom Pilz befallen, erbärmlich um... Und jetzt erschienen sie mit einer Delegation, die sich auf interplanetares Recht berief!

Der Koordinator stand auf, ging zum Mikrofon. Vielleicht wollte er dadurch Stärke andeuten, denn, sachlich gesehen, wäre es nicht nötig gewesen. Er war selbst erheblich größer als der Anführer der Eingeborenen, und einen Moment lang stellte er bei sich selbst einen verstohlenen Stolz darüber fest. Er sprach schnell, berief sich auf all jene nützlichen, von den Menschen eingerichteten Dinge, die auch den Einwohnern zugute kommen würden. Er sprach von Kultur, von Schulen, von Informationen...
      Dann hörte er mitten im Satz auf. Konnten sie ihn überhaupt verstehen? Er gab seinem Assistenten ein Zeichen, und dieser sorgte für die Übersetzung. Und wenig später hatte der Koordinator die Gelegenheit, seine Worte in ein Kauderwelsch übertragen zu vernehmen, das einem Räuspern oder Gurgeln näher kam als einer differenzierbaren Sprache.
      Verstanden sie? Er hatte nicht den Eindruck, daß einer von ihnen zuhörte. Sie lungerten herum, kratzten sich, bohrten in den Ohren und in den Nasenlöchern, wenn man die Öffnungen an den Schnauzen so bezeichnen mochte. Und sie stanken. Es war ein raubtierartiger Geruch, faulig, nach Aas... Angewidert zog der Koordinator sein Taschentuch heraus, hielt es demonstrativ vor die Nase. Noch ehe jemand antworten konnte, wandte er sich an Stockson und sagte: "Es ist lächerlich. Eine Farce! Sie verstehen nicht." "Doch der Übersetzungsautomat...", wandte Stockson ein. Der Koordinator unterbrach ihn grob. "Alles Unsinn! Da macht uns jemand etwas vor. Holen Sie den Kybernetiker!" Stockson verließ den Raum, und der Koordinator war ihm dafür dankbar, daß er die Tür offengelassen hatte. Allein mit diesen Wilden fühlte er sich alles andere als wohl.
      Durch die gelbgetönte Plexiglasscheibe des Fensters konnte er einen Teil des Geländes überblicken, das sie in mühsamer Arbeit urbar gemacht hatten. Ein Netz von Wegen, mehrere Gebäudekomplexe, der Reaktor, der Sender, die Anlagen zur Aufbereitung der Nahrungsmittel. Dahinter ein Teil des Raumschiffhafens, die Landeplattform, an der die Ionenstrahlen schon ihre Spuren hinterlassen hatten - man würde sie demnächst ausbessern müssen. Und als Hintergrund die Kegel der Vulkane, die in Abständen von wenigen Tagen abwechselnd, manchmal auch zugleich, aktiv wurden, Rauch und Asche spuckten und manchmal auch breite, glühende Lavaströme herauswürgten. Sollte ihre entbehrungsreiche Arbeit umsonst gewesen sein? Ein Stützpunkt menschlicher Kultur, eine Oase der Zivilisation, durch eine juristische Spitzfindigkeit zum Verschwinden gebracht? Diese Gefahr bestand in der Tat - wenn sich die Eingeborenen auf das interplanetare Recht beriefen.

Er hörte einige Schritte, dann schob Stockson den Kybernetiker hinein, einen schüchtern wirkenden blonden Mann. Der Koordinator ließ die Aufzeichnung des Gesprächs ablaufen, dann sagte er: "Und nun möchte ich wissen, was das soll." "Ich weiß nicht, was Sie meinen. Die Übersetzung ist einwandfrei." "Ist sie das? Wollen Sie mir wirklich einreden, die Eingeborenen könnten sich in wohlgesetzten Worten ausdrücken?" "Wohlgesetzte Worte? Der Computer ist auf optimale Verständlichkeit programmiert. Er ist es, der die Sätze formuliert." "Ich möchte wissen, was der Anführer wirklich gesagt hat", rief der Koordinator. "Eine direkte Übersetzung, keine Umdichtung - wenn Sie verstehen, was ich meine." "Von Dichtung kann keine Rede sein", erwiderte der Kybernetiker beleidigt. "Der Mann hat sich von seiner Warte aus gesehen genauso klar ausgedrückt, wie es der Computer übersetzt." "Ich möchte wissen", sagte der Koordinator gefährlich leise, "ob hier wirklich von interplanetarem Recht, von der Charta zum Schutz eigenständiger Intelligenz und von Anmeldungsformalitäten die Rede war." "Wie stellen Sie sich das vor!" sagte der Kybernetiker. "Diese Wesen haben kein Vokabular, keine Grammatik in unserem Sinn. Es gibt keine Wort-für-Wort-Übersetzung.". "Und was haben wir da eben gehört?" fragte der Koordinator. "In solchen Fällen liefert der Computer eine Interpretation, Sir. Es geht ja um den Sinn, Sir."
      Der Koordinator schien plötzlich müde zu sein. "Es ist in Ordnung", sagte er zu dem nun verunsichert wirkenden jungen Mann, und dann, zu seinem Assistenten: "Schicken Sie die Leute weg!"

Das Projekt war gerettet. Fast hätte ihm ein Computer einen Strich durch die Rechnung gemacht, der so perfekt programmiert war, daß er noch aus den Urlauten von Wilden einen Sinn herauslesen und diesen juristisch verbrämt formulieren konnte. Was sich diese Linguisten eigentlich dachten! Das Projekt war gerettet. Was aber, wenn die Interpretation richtig war? Juristisch hatte das zwar keine Bedeutung, aber... Bevor der Koordinator den Raum verließ, blickte er noch einmal zurück. Trotz der hervorstehenden Eckzähne, trotz der Klauen, die sie anstelle von Fingernägeln hatten, trotz ihrer urwüchsigen Kraft waren sie schwach. Sie waren es den Menschen gegenüber, sie waren es aber auch gegenüber der Natur, der sie schutzlos ausgesetzt waren. Wenn sie von ihren Anlagen her dazu fähig waren dazuzulernen, dann würden die Menschen es ihnen beibringen: daß man sich der Natur nicht unterwerfen muß. Die Müdigkeit war verflogen - und die Irritation. Nur ein kurzer Augenblick der Schwäche - jetzt war er wieder sicher, daß es richtig war, was er tat.



More short stories (in German) can be found in the book:

"Die Zukunftsmaschine",

ein Sammelband mit den besten utopischen Kurzgeschichten
von Herbert W. Franke.

Veröffentlicht von der Phantastischen Bibliothek Wetzlar.
Der Jubiläumsband kann bei der mce GmbH bestellt werden.

Der Band enthält 49 Kurzgeschichten aus 49 Jahren, umfasst 285 Seiten und kostet 18,00 EUR.



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